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Storytelling: zur Wiederentdeckung einer traditionsreichen Kunst

"Wer trifft noch auf Leute, die rechtschaffen etwas erzählen können? - Beinahe nichts mehr, was geschieht, kommt der Erzählung, beinah alles der Information zugute!" (Walter Benjamin)

Dabei ist in der Geschichte der Menschheit die "Oratur" sehr viel älter als die "Literatur". In einigen Kulturen hat die mündliche Überlieferung auch heute noch einen höheren Stellenwert als die schriftliche. Die ethymologische Bedeutung des Begriffes "Erfahrung" ("durch Fahren erwerben") weist darauf hin, daß diejenigen, die reisen (müssen), den anderen "etwas zu erzählen haben". So ist vielleicht nicht verwunderlich, daß in Deutschland erst in den letzten Jahren vor allem durch Immigranten das mündliche Erzählen im öffentlichen Raum eine gewisse Popularität erreicht hat. Doch von einer Storytelling- Bewegung, wie sie sich in Frankreich, in den angloamerikanischen und skandinavischen Ländern etabliert hat, mit eigenen Festivals und einer aktiven Kulturarbeit, sind wir hierzulande noch sehr weit entfernt. Es sind Ansätze bemerkbar: die Akademie Remscheid veranstaltete in den letzten 2 Jahren Festivals und Workshops mit internationalen Geschichtenerzählern und auch im süddeutschen Raum wurde vom SWR Rundfunk Erzählerreihen gesendet, die mit einer öffentlichen "langen Erzählnacht" abschloß.
Trotzdem scheint in Deutschland die gebrochene Haltung, die man gegenüber Volksgut hat, was aufgrund seiner Verherrlichung im nationalsozialistischen Deutschland verständlich ist und alles, was mit deutscher Folklore zu tun hat, verdächtig erscheinen läßt, auch auf die mündliche Vermittlung von Geschichten ohne aufwendige Inszenierung und Requisiten zu beziehen. Durch die Verschriftlichung der Volksmärchen und Volkslieder in der Romantik ist dazu eine Starrheit eingetreten, die nur noch das angeblich originale Wort schwarz auf weiß gelten läßt.
Selbst Leute wie Rafik Schami oder Jussuf Naoum, die nun hierzulande die orale Erzähltradition ihrer Herkunftsländer bekannt gemacht haben, messen ihren Erfolg möglicherweise inzwischen eher an der Zahl der verkauften Bücher. (Wobei ja schon Walter Benjamin feststellte, daß die besten (schriftlichen) Erzählungen diejenigen sind, deren "Niederschrift sich am wenigsten von der Rede der vielen namenlosen Erzähler abhebt", deren archaische Vertreter der handelstreibende Seemann und der seßhafte Ackerbauer sind...
Wie das Genre Märchen inzwischen - von Experten abgesehen - als Textsorte für Kinder angesehen werden, so ist auch das Erzählen in Gefahr, in dasselbe pädagogische Ghetto zu geraten. Dabei ist als öffentliche Veranstaltung das Erzählen viel spannender als eine herkömmliche Autorenlesung. Das Publikum kann viel länger und aufmerksamer zuhören. Es ist von Beginn eine interaktive Kommunikation, die positiv spannungsgeladen ist. Die Erzählsituation mit ihrer Atmosphäre, die Zusammensetzung der Zuhörer mit ihrem Verhalten haben Einfluß auf die Geschichte. Es findet ein "kommunikativer Tanz" statt.
An der HBI versuche ich mit entsprechenden Veranstaltungen, die Öffentlichen Bibliotheken als Bühne für Storyteller zu erschließen und angehenden Bibliothekarinnen das Erzählen als lernenswerte(s) Kunst(handwerk) zu vermitteln. 1997 fand eine Fortbildungsveranstaltung mit Bibliothekarinnen und Pädagoginnen unter dem Titel "Geschichten erzählen - Geschichten spielen" statt. 1998 eine interkulturelle Tagung "Ganz schön bunt hier" und 1999 die Veranstaltungsreihe in Stuttgart: "Welt der Geschichten - fang sie ein", bei der Storyteller in verschiedenen Institutionen lasen (Stadtbüchereien, Völkerkunde-Museum, VHS).

Storyteller
Erzähler aus verschiedenen Herkunftsländern vermitteln Kindern und Erwachsenen Lust am Zuhören! Die mündliche Überlieferung von Märchen, Mythen und Alltagsgeschichten ist auch bei uns lebendig, vor allem Immigranten haben hierzulande die Erzählkunst ihrer Kulturen eingebracht. Oft werden Geschichten mit Musik und Liedern verbunden, was dem Erzählten eine besondere Faszination verleiht.
Hier stellen wir einige der uns bekannten ErzählerInnen vor:
Gidon Horowitz
Pronab Mazumdar
Jusuf Naoum
Maurice Daja
Ibrahim Khayatt
Kemal Kurt
Dorte Futtrup
Belinga Belinga

Gidon Horowitz ist in Tel-Aviv/Israel geboren und in Wien aufgewachsen, lebt heute bei Freiburg i.Breisgau. Er ist als Märchenerzähler, Schriftsteller und Analytischer Psychotherapeut in freier Praxis tätig. Zu seinem umfangreichen Repertoire gehören überlieferte Völksmärchen aus den verschiedensten Ländern und eigene Märchen. Er erzählt Märchen und Geschichten aus Osteuropa, Israel und den arabischen Ländern.

Dr. Pronab Mazumdar, in Kalkutta/Indien geboren und aufgewachsen, lebt seit 25 Jahren in Europa. In Freiburg studierte und promovierte er in Chemie. Gleichzeitig arbeitete er als Sprecher und Autor beim Südwestfunk Baden-Baden und trat als Sänger der indischen und internationalen Folklore, sowie als Rezitator und Erzähler der indischen, afrikanischen und deutschen Literatur auf. Er begleitet sich auf dem indischen Harmonium. Über 600 Geschichten trägt Pronab Mazumdar auswendig vor. Im Auftrag von UNICEF-Schweiz besucht er seit Jahren Schulen und Bibliotheken.

Jusuf Naoum wurde 1941 im Libanon geboren und kam 1964 nach Deutschland. Er arbeitete als Kellner und Masseur und fing parallel an zu schreiben. Seit 1983 lebt er als freier Schriftsteller und Kaffeehausgeschichtenerzähler in der Nähe von Frankfurt. Einzigartig ist seine Zusammenarbeit mit dem Jazz Trio Limes X.
Die phantastischen Begebenheiten und Abenteuer, von denen Jusuf Naoum erzählt, spielen in der modernen Welt von heute. Der Bogen spannt sich von Bagdad bis Berlin und von Mekka bis zum Weißen Haus. Im Spannungsfeld von orientalischer Fabulierkunst, die mit Jazz verwoben wird, erlebt das Publikum eine ausgefeilte Collage voller Poesie, Humor und wunderbarer Musik.

Maurice Daja kommt aus dem südlichen Tschad und lebt seit 6 Jahren in Münster. Er spielt auf der Kindé, einem traditionellen Musikinstrument, singt und erzählt von Familie, Freundschaft, Erwachsenwerden und der Natur in seiner Heimat. In Afrika war er Reporter, Redakteur und Regisseur, hier in Deutschland möchte M.A. Daja das übliche Klischee über Afrika durch direkten Kontakt mit seinem Publikum korrigieren helfen. Deshalb sind Kinder und Schüler seine wichtigsten Ansprechpartner. Mit seinem Programm "Afrika im Klassenzimmer" war er schon in vielen Schulen zu Gast.

Ibrahim Khayatt stammt aus Damaskus/Syrien und lebt seit 1956 in Deutschland. An der technischen Universität Berlin absolvierte er ein technisches und humanistisches Studium. Er befaßt sich nebenberuflich mit arabischer Literatur und Musik und trägt seine eigenen Übersetzungen und Interpretationen arabischer Texte vor. Zusammen mit einem Musiker gestaltet er Lieder, Gedichte und Erzählungen aus der arabischen Kultur.

Kemal Kurt wurde in Corlu/Türkei geboren. Seit 1975 lebt er in Berlin, wo er heute als freier Autor arbeitet. Ausgehend von seinem Buch "wenn der Meddah kommt", wo er Volks- und Kunstmärchen nacherzählt, tritt er, verkleidet, als traditioneller Märchenerzähler auf. Wie bei vielen "orientalischen" Erzählern fasziniert die kunstvolle Verschachtelung von Vormärchen, Rahmen- Haupt- und Nebenhandlungen und man bewundert unwillkürlich das Gedächtnis des Vortragenden.

Auf die Frage, wie sie ihre Geschichten lerne, sagte Dorte Futtrup, eine Dänin, die ihre Geschichten in Grönland "gefunden" hat: sie lerne sie nicht auswendig ("by heart") sondern "with the heart", also versuche, die Geschichte mit ihren eigenen inneren Bildern zu verfolgen. Frau Futtrup lebte 5 Jahre in Grönland und hat die symbolhaltigen Geschichten der Inuit als Schlüssel für ihr weiteres Leben entdeckt. Sie beschloß, ihren Beruf als Bibliothekarin und Lehrerin nur noch Teilzeit auszuüben um sich als Storytellerin zu professionalisieren.

Informationen
http://www.erzaehlen.de/
Die Site für die Erzählszene im deutschsprachigen Raum. Ein bisschen Theorie, Diskussionsforum und vor allem die Liste der ansprechbaren Erzählerinnen und Erzähler, nach Regionen geordnet, die sich mit ihrer eigenen Homepage darstellen. Weiter eine Linkliste für überregionale und internationale Kontakte.