„Es fehlt Sprachkompetenz“: Kinderbuchautorin Scheffler drängt Eltern zum Vorlesen
02.09.2024
Büchertürme Hamburg
© Büchertürme Ursel Scheffler
Millionen verkaufte Bücher, internationale Lesereisen und ein großes Ziel: Die Hamburger Kinderbuchautorin Ursel Scheffler («Kommissar Kugelblitz», «Ätze das Tintenmonster») setzt sich seit vielen Jahrzehnten leidenschaftlich für das Lesen lernen ein. Und für den Spaß daran. Auch im hohen Alter schickt die 86-Jährige noch immer Bücher zu Kindern, sucht Sponsoren und wirbt fürs Lesen lernen. Doch wie kam es zu dieser andauernden und gesellschaftlich so wichtigen Leidenschaft? «Schuld» ist ihre Oma, hat Scheffler im Gespräch in Hamburg verraten.
Geprägt durch die Erzählungen ihrer Großmutter
Die frühen Lebensjahre von Ursel Scheffler waren vom Weltkrieg geprägt – von Not, Leid und Armut. «Trotzdem habe ich immer gedacht, ich hatte eine glückliche Kindheit», sagt die 86-Jährige, die im 1944 zerstörten Nürnberg aufgewachsen ist. Ihr Grund: «Wir sind zu meiner Großmutter ins relativ heile Bamberg gezogen. Und sie hat uns Geschichten erzählt, aus ihrem dicken alten Märchenbuch vorgelesen – es gab eben noch die Erzähltradition», erinnert sich Scheffler.
«Sie hat uns aufgefangen. Und von ihr habe ich wohl meine Fantasie und die Freude am Erzählen mitbekommen», resümiert die höchst vital wirkende jeweils dreifache Mutter und Großmutter mit leicht fränkischem Akzent am langen Esstisch. In der kleinen Ursel war damit der Keim gesetzt für eine berufliche Laufbahn mit mehr als 400 Büchern in weltweiter Millionenauflage – nebst vielen Hörbüchern. Sowie für Schefflers Einsatz für die Leseförderung, für den sie 2018 mit der Biermann-Ratjen-Medaille der Hansestadt geehrt wurde.
Als Kind habe sie «wie verrückt» gelesen. «Es gab einen Tabakladen an der Ecke, der hat vergilbte Bücher ausgeliehen. Western, Karl May, besonders gern hatte ich Enid Blyton», erinnert sich die Autorin lachend, «meine Mutter sagte immer, du drückst dich nur vorm Abspülen.»
Nach dem Besuch eines Realgymnasiums studierte sie Anglistik und Romanistik, beschäftigte sich im Fach Volkskunde mit Märchen und Sagen als internationalem Kulturgut. Machte ein Übersetzer-Diplom mit dem Ziel, in den diplomatischen Dienst zu gehen. Doch eine im Alter von 21 Jahren eingegangene Ehe und ihr Nachwuchs brachten die Veränderung. «Da war Familiendiplomatie gefragt», sagt Scheffler schmunzelnd.
Menschlich-philosophisch orientiert
Sie sei der Typ «Was es nicht gibt, das machen wir eben». Gemeinsam mit einer Lehrerin schrieb sie 1970 ihr erstes Werk, ein ökumenisches Gebetbuch für katholische und evangelische Schüler. 2001 folgte eine populäre Kinderbibel. «Ich war für Gemeinschaftsschulen und gemeinsames Denken und Beten», erklärt die vorrangig menschlich-philosophisch orientierte Autorin – die 2018 ein Gebetbuch für christliche und muslimische Kinder publizierte.
«Mutti, schreib‘ doch mal was Gescheites»
Auch Bilderbücher veröffentlichte Scheffler. Bis ihre jüngste und dem Bilderbuchalter längst entwachsene Tochter eines Tages gesagt habe, «Mutti, schreib‘ doch mal was Gescheites, einen Krimi oder so.» Daraufhin entwickelte die Jungautorin – ganz am Anfang noch im Wirtschaftsraum neben der Waschmaschine – ab 1982 ihre mehr als 80 «Kugelblitz»-Fälle eines rundlichen Ermittlers etwa für Viertklässler. Fünf Millionen Mal wurden die Geschichten verkauft, sogar in China ging Scheffler mit den witzig illustrierten, interaktiven Büchern, in denen die Leser Fragen beantworten müssen, auf mehrwöchige Lesereise, Übersetzer inklusive. Mit Kugelblitz lernen die Kleinen spannend und spielerisch Alltagsprobleme lösen – warum man sein Fahrrad registrieren lassen und Drogen meiden sollte.
Eltern sollten wieder mehr vorlesen
Damit schließt sich auch der Bogen zu dem, was der 86-Jährigen heute vorrangig am Herzen liegt – die Lese- und Vorleseförderung. «Es fehlt Sprachkompetenz, Kinder haben oft einen viel zu kleinen Wortschatz. Und nicht an allem ist die Politik schuld», urteilt die selbstbewusste Hamburgerin. Man sollte unbedingt selbst Verantwortung übernehmen. «Ich wünsche mir, dass Eltern ihren Kindern wieder vorlesen. Dass sie verstehen, dass sie diese Pflicht haben. Vorlesen ist so wichtig, weil es den Kindern den Zugang zum Selbstlesen erleichtert», insistiert Scheffler, «außerdem erhalten sie dabei Zuwendung, an der es auch im Wohlstand mangelt.» Aufgeschreckt hatten sie die PISA-Studien seit 2000 zur Sprachkompetenz junger Menschen.
Projekt «Büchertürme» – Kinder lesen stapelweise Bücher
Im November 2011 startete die Botschafterin der «Stiftung Lesen» (Mainz) ihr Projekt «Büchertürme» – an dem schon Schulen in Barcelona, Wien und Warschau teilgenommen haben. Dabei lesen Kinder einer Klasse in ihrer Freizeit – und ihre Lehrerinnen und Lehrer melden auf einer Website, wie viele Bücher es pro Klasse waren. Je höher der gesammelte Bücherstapel, desto besser. In ganz Deutschland wurden bei der Aktion bislang mehr als 1,7 Millionen Bücher gelesen. Bis Januar 2025 sollen es zwei Millionen werden. Den Kontakt zu den Schulen kann Scheffler dank ihres Ansehens als Schriftstellerin herstellen.
Mit Büchern Türme und Brücken bauen
Als Spin-Off dazu gibt es seit Februar 2022 die «Vorlesetürme» für Kinder im Vorschulalter. Kernstück ist eine kunterbunte, von ihr zusammengestellte und meist in Kitas geschickte Schatzkiste, aus der sich jedes Kind pro Woche ein Buch nehmen darf. Als «Geheimagent» erhält es dann den Auftrag, jemanden zu finden, der ihm daraus vorliest. «Ich will auch die Kinder aktivieren, damit das Vorlesen einen Platz in ihrem sozialen Umfeld findet», betont Scheffler.
Bei alledem möchte sie Menschen, Nationen und Konfessionen verbinden. Auf ihrer kosten- und werbefreien App «Bücherbrücken» sind daher nicht nur deutsche Kinderbücher in Bild und Ton zu finden – 20 davon aus ihrer Feder. Sondern auch Übersetzungen auf Ukrainisch, Russisch, Polnisch, Englisch, Chinesisch, Türkisch. Friesisch und Plattdeutsch sollen folgen.
«Die Kinderbuchautorin Ursel Scheffler ist eine Türöffnerin und Brückenbauerin», würdigte sie bei der Verleihung der Biermann-Ratjen-Medaille denn auch Hamburgs Kultursenator Carsten Brosda (SPD). Und nannte Scheffler «eine der wichtigsten deutschsprachigen Kinderbuchautorinnen». Von Ulrike Cordes, dpa