Selbstwirksamkeit und gesellschaftliche Verantwortung
21.10.2024
Benjamin Gottwald /akj
© Benjamin Gottwald
Bundesjugendministerin Lisa Paus hat am 18. Oktober auf der Frankfurter Buchmesse den Deutschen Jugendliteraturpreis 2024 verliehen. Vor einem Publikum von 1.600 Gästen verkündete sie die Preisträger:innen in sieben Kategorien. Der Sonderpreis Gesamtwerk Übersetzung ging an Rolf Erdorf. Er hat rund 200 Titel aus dem Niederländischen ins Deutsche übertragen, die sämtliche Sparten der Kinder- und Jugendliteratur umfassen. Fein abgestimmt mit dem Original und zugleich auf Augenhöhe mit den Leser:innen trifft er immer den richtigen Ton. „Das ist Übersetzerhandwerk in vollendeter Form“, lobt die Sonderpreisjury.
Der Auszeichnung für das Lebenswerk steht der Sonderpreis „Neue Talente" gegenüber. Gewinnerin ist Astrid Bührle-Gallet, die mit ihrer Übersetzung der französischen Novelle Möge der Tigris um dich weinen (Orlanda) einen klugen und sprachlich überzeugenden Text vorgelegt hat. Die Autorin Emilienne Malfatto erzählt darin vom Schicksal einer unehelich schwanger gewordenen jungen Frau im ländlichen Irak.
Die Kritikerjury prämierte vier herausragende Bücher in den Sparten Bilder-, Kinder-, Jugend- und Sachbuch. „Die Preisbücher fordern kunstvoll zum Hinsehen und Hinspüren auf“, betont die Juryvorsitzende Prof. Dr. Iris Kruse. „Eindringlich setzen sie Gesellschaftlichkeit ins Zentrum. Sich selbst als Teil eines größeren Ganzen zu begreifen, als Mitglied einer Gemeinschaft, in der es auf die vermittelnde und verbindende Haltung jeder und jedes Einzelnen ankommt: Das ist das Erfahrungsangebot, das alle Preistitel machen.“
Als bestes Bilderbuch überzeugte Wünsche (Horami). In einem eindrücklichen Zusammenspiel von poetischem Text und starker Bildsprache erzählen die Autorin Mượn Thị Văn und die Illustratorin Victo Ngai eine Fluchtgeschichte aus Südvietnam, die auf der Familiengeschichte der Autorin basiert. Getragen wird die lebensbedrohliche Reise von der Kraft des Wünschens. Petra Steuber hat den 75 Wörter umfassenden Originaltext erzählstark ins Deutsche übertragen.
Sieger im Kinderbuch ist der Roman Wolf (Carlsen) von Saša Stanišić. Aus der Perspektive des nicht eingreifenden Ich-Erzählers beschreibt Stanišić einen Mobbing-Vorfall unter Jugendlichen im Waldcamp. Autor und Erzählfigur erweisen sich als scharfe Beobachter des Sozialen und verhandeln die Frage, was eigentlich zu Mobbing führt. Trotz der Schwere des Themas besticht der Roman durch seinen Wortwitz. Die schwarz-gelben, scharf konturierten Illustrationen von Regina Kehn geben weitere Impulse zum Nachdenken.
In der Sparte Jugendbuch konnte sich Eva Rottmann mit Kurz vor dem Rand (Jacoby & Stuart) durchsetzen. Im Mittelpunkt dieses Romans steht die Skaterin Ari, die mit ihrem Vater in einer Hochhaussiedlung wohnt. In 15 Kapiteln, die sich jeweils einem Tag widmen, erhalten Lesende einen Einblick in die Fragilität des jugendlichen Erlebens, zu der das Miteinander der Clique ebenso gehört wie das erste Verliebtsein. Ein herausragender Coming-of-Age-Roman, der Jugend in all ihren Facetten ernst nimmt.
Um das brennende Thema Migration geht es im Preisbuch der Sparte Sachbuch; hier überzeugte der dokumentarische Comic Games. Auf den Spuren der Flüchtenden aus Afghanistan (Splitter). In Comic-Sequenzen – angereichert durch Infografiken und Sachtexte – schildert der Autor und Illustrator Patrick Oberholzer die authentischen Fluchterfahrungen von fünf Menschen aus Afghanistan. Dabei wird deutlich, dass die physischen und psychischen Belastungen, mit denen sie auf ihrem Weg konfrontiert wurden, die Grenzen des Sagbaren sprengen.
Das Preisbuch der Jugendjury beleuchtet die Monstrosität des Krieges: Alice Winns historischer Roman Durch das große Feuer (Eisele) erzählt bewegend von der heimlichen Liebesbeziehung zweier Freunde vor dem Hintergrund ihrer Erlebnisse an der Front des Ersten Weltkrieges. Durch die Mischung aus erzählender Prosa, Briefen, Gedichten und Zeitungsausschnitten entsteht eine reizvolle erzählerische Mehrdimensionalität, die Benjamin Mildner und Ursula Wulfekamp behutsam ins Deutsche übersetzt haben.